Ortgies, Nr. 1

Die Ortgies Pistole mit der Seriennummer 01 stammt aus dem Besitz des niederländischen Fachautors und Sammlers Nico van Gijn. Van Gijn hatte die Pistole aus der Geschäftsauflösung der Firma Munts, also dem Besitz von Peter Bertus Wilhelm Kersten, im Jahr 2013 erworben. Kersten und schließlich dessen Sohn waren seit dem 15. Februar 1909 Besitzer der Nederlandische Wapenhandel v/h Johan Munts in Amsterdam, damals unter der Adresse Spuistraat 113-115. Munts war Generalimporteur der Ortgies Pistole in den Niederlanden und hatte das Ladengeschäft zuletzt im Middenweg 110 in Amsterdam.

Van Gijn ist im Besitz von Unterlagen von Kersten, auf denen er handschriftlich "Pistole nach dem Patent von Karl August Brauning" notierte. Brauning hatte sich in den Niederlanden niedergelassen und emigrierte von dort 1923 in die USA. Nach Auskunft der Statue of Liberty foundation, New York, erreichte Brauning Ellis Island (NY) am 23. Juni 1923 via Rotterdam und gab bei der Einreise als letzten Wohnort Zaandam / Niederlande an. Zaandam liegt unmittelbar nördlich an der Stadtgrenze zu Amsterdam. 

Van Gijn vermutet, dass Heinrich Ortgies die Pistole mit der Nummer 01 an Brauning als Dank überließ. Weil Brauning die Pistole aber vermutlich nicht mit in die USA mitnehmen konnte, verkaufte er die Waffe an Kersten, dessen Ladensgeschäft nur wenige Kilometer von Braunings Wohnort lag. Die Ortgies Pistole befand sich seither im Besitz der Familie Kersten und war über viele Jahre im Ladengeschäft ausgestellt, wo sie van Gijn schließlich bei der Geschäftsauflösung kaufte. Als Beleg dafür, dass sich die Waffe über Jahrzehnte im Besitz Munts befand, dient eine Bescheinigung der Niederländischen Polizei, die der Waffe beilag. Demnach verlieh Munts die Ortgies als Requisit an den niederländischen Filmemacher Leo Thonhauser für Filmaufnahmen auf dem Campingplatz Amsterdamse Bos. Die Bescheinigung ist datiert auf den 14. April 1969.


Besonderheiten

Die Pistole hat die seltene 1. Beschriftungsvariante auf der linken Seite

ORTGIES & Co - ERFURT
ORTGIES’ PATENT

Es handelt sich damit also eindeutig um eine frühe Variante. Auf der Unterseite des Verschlusses befindet sich eine 6 und ein kursives R. Auf der linken Seite des Griffstücks befindet sich ebenfalls ein kursives R. Die Abzugsstange trägt die Nummer 1.

Die Visierrinne auf der Oberseite des Schlittens ist im Vergleich zur Serien-Ortgies leicht geriffelt. Die Verschlussfeder ist aus einem Draht mit eckigem Querschnitt, im Vergleich zu Runddraht bei der Serienvariante. Die Griffschalen sind ohne Griffmedaillon. Das Magazin ist markiert mit 9m/m auf der linken und 7,65 m/m auf der rechten Seite.

Auf der rechten Schlittenseite unterhalb des Ausziehers erkennt man am Farbunterschied der Brünierung einen in das Verschlussstück eingearbeiteten Einsatz, der im Inneren des Schlittens zu einer Führungsleiste ausgeformt ist, die in die Führungsnuten des Griffstücks eingreift. Diese Leiste ist bei der Serien-Ortgies aus dem Vollen gefräst.

Die Pistole verfügt, im Gegensatz zur Serien-Ortgies über eine funktionierende Magazinsicherung. Es handelt sich aber nicht um die im DRP 303879 vom 12. Juli 1916 von Ortgies patentierte Sicherung, die über eine Nase am Abzugszüngel wirkt, die in den Magazinschacht hineinragt.

Im Vergleich zur Serie ist kaum ein technischer Unterschied feststellbar, mit Ausnahme einer leicht veränderten Ausfräsung für die Steuerkurve der Abzugsstange. Möglicherweise wird hierüber erreicht, dass das eingeführte Magazin die Stange etwas anhebt, sodass sich wegen der Lagerung um einen Drehpunkt der Abzugsstollen leicht senkt. Bei Betätigung des Abzugs senkt sich der Abzugsstollen nun so weit, dass der Schuss ausgelöst wird. Ohne eingeführtes Magazin hingegen, reicht die Absenkung durch den Abzug nicht, um den Schlagbolzen freizugeben. Diese Art der Magazinsicherung erfordert eine sehr genaue Fertigung, da der Unterschied zwischen Funktion und Nicht-Funktion minimal und möglicherweise auch abhängig von den passenden Abmessungen des Magazins ist. Vermutlich war diese für die Serienproduktion zu aufwendig und zu unsicher.


Fazit

Bei der Ortgies Nr. 01 handelt es sich ganz klar um einen Prototyp mit Details, die sich in der Serienfertigung nicht mehr finden. Die Geschichte der Waffe lässt sich zum Teil nur mit Indizien belegen, besonders die Verbindung zwischen Brauning und Kersten und wie die Pistole schlussendlich in den Besitz Kerstens gekommen ist. Fakt ist, dass Nico van Gijn die Pistole aus dem Besitz der Familie Kersten erwarb. Nun ist die Pistole nach rund 100 Jahren wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Portrait von Peter Bertus Wilhelm Kersten,

Quelle:

http://resources.huygens.knaw.nl/retroboeken/persoonlijkheden/#source=1&page=790&view=imagePane

Patentzeichnung Abzugsstange, DRP 307698

Patentzeichnung Sicherung (nicht umgesetzt), DRP 303879

Ortgies Pistole, Seriennummer 01, 7,65 mm Browning


Diesen Monat stelle ich eine Besonderheit vor, nämlich die Ortgies Pistole mit der Seriennummer 01, die vor kurzem wieder den Weg nach Deutschland gefunden hat. Generell hatte ich die Ortgies Pistole bereits hier im vergangenen Jahr vorgestellt.


Geschichte der Ortgies Pistole

Heinrich Ortgies ließ sich am 23. April 1919 in Erfurt nieder und firmierte zunächst auf dem Gelände der ehemaligen königlich preußischen Gewehrfabrik Erfurt.

Der Erfurter Historiker Jan Wolf beschreibt auf seiner Seite "Erfurter Waffengeschichte", dass sich noch in den Jahren 1920 und 1921 die Firmenadresse am Mainzerhofplatz 13 befindet. Die Firmenbezeichnung Ortgies & Co. beziehe sich dabei die Geschäftspartner Paul Ennig und Heinrich Ortgies Schwiegersohn Karl Paßmann. Vermutlich ab 1922 übernahm die Deutsche Werke AG die Produktion der Ortgies Pistole, wo dann bis 1923 rund 450.000 Pistolen entstanden.

Ortgies selbst war kein Büchsenmacher sondern Händler und Handelsvertreter in Lüttich. Dennoch reichte er zwischen 1916 und 1921 eine Reihe von Patenten zur Ortgies Pistole ein. Der eigentliche Entwurf der Ortgies Pistole soll jedoch aus der Feder des Konstrukteurs Karl August Brauning stammen, der vor 1920 zeitgleich mit Ortgies in Lüttich arbeitete. Belegt ist Ortgies' und Braunings Wirken in Lüttich durch die jeweiligen Patentanmeldungen, die als Wohnort Lüttich bzw. Belgien angeben (z.B. DRP 349063, Selbsttätige Feuerwaffe, 1918). Wie aus Patentanmeldungen hervorgeht, ist Brauning spätestens im Frühjahr 1920 wieder in Deutschland ansässig.

Ortgies SN 01, linke Seite
Ansicht der linken Seite mit der seltenen frühen Beschriftungsvariante.
Ortgies SN 01, rechte Seite
Ansicht der rechten Seite. Deutlich sichtbar der Einsatz unter dem Auszieher.
Vergleich Schlitten
Hier der direkte Vergleich. Ortgies 01 oben, Serien-Ortgies unten.
Ortgies SN 01, Griffstück Unterseite
Die Seriennummer 01 findet sich auf der Unterseite des Griffstücks vorne.
Ortgies SN 01, Unterbrecher Detail
Die Seriennummer 1 findet sich auch auf der Abzugsstange wieder.
Ortgies SN 01, Schlittenunterseite
Gemarkt ist die Unterseite mit 6 und einem kursiven R.
Ortgies SN 01, Griffstück und Lauf, links
Im Vergleich zur Serie ist die Schließfeder kürzer und aus flachem Draht gebogen
Ortgies SN 01 Griffstück und Lauf, rechte Seite
Keine Auffälligkeiten im Vergleich zur Serie
Magazin linke Seite
Das Magazin ist standardmäßig mit 9m/m rechts und 7,65 m/m links beschriftet. Der Magazinboden ist verstiftet. Es handelt sich also um ein frühes Magazin.
Vergleich Unterseite Schlitten
Die Schlitten zwischen Ortgies 01 und Serie sind sehr ähnlich. Es fällt auf, dass die Ausfräsung für die Steuerkurve der Abzugsstange kürzer ist.
Vergleich Visierrinne
Die Visierrinne der Ortgies 01 (unten) ist im Vergleich zum Serienmodell (oben) punziert.