Technik und Patente

Bei der Steyr Modell 1909 handelt es sich um eine Selbstladepistole mit feststehendem, kippbarem Lauf und Masseverschluss mit einem einfachen Hahnschloss und innenliegendem Hammer. Die Schließfeder samt Kupplungsstange liegt in einer Bohrung oberhalb des Laufs im Laufgehäuse.

Das Verschlussstücklager ist mittels Schrauben fest mit dem Griffstück verbunden. In ihm gleitet Verschlussstück, das hinten Spannrillen und einen Kimmeneinschnitt besitzt. An der Unterseite des Verschlussstücks liegt eine Blattfeder, die Druck auf eine Gleitfläche im Griffstück ausübt und damit das Verschlussstück bremst. Der eigentliche Verschluss ist vorne am Verschlusstück angebracht und enthält den Schlagbolzen. Im Griffstück sitzt vorne oberhalb des Abzugs ein federgelagerter Kipphebel, der sogenannte Laufschlüssel, mit dem man das Laufgehäuse löst. Die hinten links am Griffstück befindliche Hebelsicherung wirkt direkt auf den Hahn. Das Magazin fasst sechs Patronen und hat an der Rückseite zwei Kerben. Rastet der Magazinhalter mit seiner Nase in die obere Kerbe ein, so steht das Magazin etwas heraus und der Verschluss kann die Patrone nicht fassen. Die Pistole lässt sich so im Einzelfeuermodus über die Kipplauffunktion schießen.


Alles in allem basiert die Steyr Pistole auf den Patenten von Jean Warnant und Nicolas Pieper.

Pieper erwarb am 30. Oktober 1905 die Rechte an der Grundkonstruktion von Warnant (belgisches Patent 178535 von 1904) und an einigen Folgepatenten (u.a. britisches Patent 9379 von 1905). Warnants Patentansprüche beziehen sich dabei auf eine Kipplaufkonstruktion, bei der entweder der Lauf- oder der Verschlussblock um eine Achse gekippt werden kann. Dies ermöglicht einen leichteren Zugang zum Lauf, entweder zur Reinigung oder aber auch, um einzelne Patronen unmittelbar ins Patronenlager zu laden oder zu entladen. Pieper baute auf die Warnant-Patente auf, entwarf jedoch zunächst eine Konstruktion, bei der der Lauf- und Verschlussblock mittels Lösens einer Schraube bzw. später mittels Umlegens eines Hebels einfach vom Griffstück zu trennen sind. Erst mit dem Modell 1908 führt Pieper eine Pistole mit Kipplauf ein, die möglicherweise der lizenzrechtlich ausschlaggebende Vorgänger für die Steyr war, obwohl die Steyr Modell 1909 der Pieper Pistole Modell 1909 äußerlich sehr ähnlich sieht.


Ergänzend findet sich noch ein weiteres Patent von Jean Warnant (franz. Patent Nr. 11126) aus dem Juni 1909, das den gefederten Öffnungsmechanismus für den Laufblock abdeckt.


Die zum Teil beiderseits auf dem Laufgehäuse der Steyr angegebenen Zahlen und Buchstabenfolgen PAT. No. 9379-05 u. No. 25025-06 sowie PAT. ENGL. No. 16715-08 No. 40335 lassen sich wie folgt aufschlüsseln:

  • 9379-05 ist Warnants britisches Patent zur Kipplaufkonstruktion,
  • 25025-06 ist Piepers britisches Patent zum Magazinhalter,
  • 16715-08 ist Piepers britisches Patent zum Schlosswerk (wird erst ab der Erstserie angegeben),
  • 40335 ist Piepers Schweizer Patent zur Pieper Kipplaufpistole.


Steyr verbesserte bei seinem Modell 1909 vor allem die Verbindung zwischen der Vorholfederstange und dem Verschlussstück mit einer hakenförmigen Ausformung am Ende der Vorholfederstange.


Varianten

Mötz/Schuy unterscheiden vier Varianten der Steyr Modell 1909: Vor-, Erst-, Zweit- und Drittserie. Ich richte mich aus Gründen der Einheitlichkeit nach diesen Bezeichnungen.


Die Vorserie mit rund 5.300 Pistolen besitzt einen schlanken Kipphebel mit einer waagrechten Verbreiterung, der zum Lösen des Laufgehäuses ca. 120° um seine Achse gedreht werden muss. Das Laufgehäuse ist nicht gefedert und muss händisch nach oben geklappt werden. Die Kante oberhalb des Abzugsbügels ist geschwungen. Das Verschlussstück weist sieben voll ausgeprägte Spannrillen auf. Der Sicherungshebel selbst besitzt eine rechtwinkling geschnittene Fischhaut. Der Hebel ist in seiner Feuer-Stellung nicht parallel zur Laufachse ausgerichtet und schwingt in eine runde Ausnehmung der Griffschale. Alle Waffen der Erstserie haben zum Ablesen des Sicherungszustands das Wort "Fire" markiert. Doch Vorsicht: "Fire" bedeutet, dass die Waffe gesichert ist! Dies entsprach nicht den üblichen Gepflogenheiten und mag zu Unfällen geführt haben.


Die Erstserie (ab SN 5000 bis etwa 42000, ab 1909) entspricht äußerlich noch der Vorserie hat aber bereits einen gefederten Lauf, der selbstständig nach oben schwenkt, wenn der Kipphebel eingedrückt wird. Der Kipphebel weist gegenüber der Erstserie eine leicht veränderte Form auf und ist nun ebenfalls federnd gelagert, so dass er nach Betätigung in seine Ausgangslage zurückspringt. Der Sicherungshebel hat nun anstatt der Fischhaut konzentrische Kreise. Die Erstserie wurde mit dem Suffix "A" hinter der Seriennummer kenntlich gemacht. Der Bereich des Verschlussstücks mit den Spannrillen ist 1 mm kürzer und hat nun nur noch sechs voll ausgeprägte Rillen.


Bei der Zweitserie (ab SN 42000 bis 129500, ab ca. 1912) kam es zu weiteren Veränderungen. So wurde die Kante oberhalb des Abzugs begradigt und der Kipphebel massiver ausgeführt. Die Feder des Kipphebels ist gegenüber der Erstvariante stärker. Der Sicherungshebel schwenkt nun um 180° und steht bei entsicherter Waffe parallel zur Laufrichtung. Die Griffschale ist links großzügiger ausgenommen, um das Umlegen des Sicherungshebels zu ermöglichen. Zusätzlich wird das Gewicht des Verschlussstücks um 7 g auf 53 g erhöht und das Verschlussstück ist im Bereich der Spannrillen insgesamt etwas höher. Zudem wird der Griffsporn tiefer angesetzt. Dadurch steigt das Waffengewicht um 20 g auf 350 g. Die Blattfeder an der Unterseite des Verschlussstücks ist etwas verlängert und nun mittels Klemmung befestigt, anstatt mit einer Schraube wie bei der Erstserie. Der Magazinhalter wird in der Form etwas verändert und lässt sich gegenüber der Erstserie schlechter fassen.


In der Drittserie (SN 129500 bis 131000) wird ab 1931 am Verschluss ein Auszieher angebracht. Dieser verläuft über die gesamte Länge und ist von hinten in einen Schwalbenschwanz eingeschoben. Die Drittserie ist mit rd. 1.500 Pistolen recht selten.


Das Verschlussgehäuse ist auf der linken Seite wie folgt beschriftet:


OESTER. WAFFENFABRIKS-GES

STEYR.


Ab 1922 wird der Zusatz MADE IN AUSTRIA. ergänzt.


Neben den Patenten und den Beschusszeichen NPv finden sich links auf dem Laufgehäuse immer auch die letzten beiden Zahlen des Beschussjahrs. Auf der rechten Seite des Laufgehäuses steht:


N. PIEPER PATENT


Um 1930 wird wegen Auslaufens des Patentschutzes der Zusatz "EHEM." oberhalb des Patenthinweises gestempelt.

Die schwarzen Kunststoff-Griffschalen zeigen beiderseits ein Oval mit einem verschlungenen ÖWG sowie den Schriftzug STEYR. Ab 1921 nutzt ÖWG nur noch den Schriftzug STEYR in konzentrischen Kreisen (stilisierte Zielscheibe). Werkseitig gab es Holzgriffschalen mit Fischhaut.


Im WUM Katalog wird die Steyr mit der seitlichen Beschriftung STEYR-SOLOTHURN WAFFEN A.G. angeboten. Die Griffschalen dieser Pistole zeigen ein verschlungenes SSW. Ob die Pistole allerdings tatsächlich so ausgeliefert wurde, ist mangels Belegstücken nicht bekannt.


Verwendung fand das Modell 1909 auch bei Polizeien und in geringen Stückzahlen beim Militär. In geringen Umfang bot Steyr werksvernickelte und gravierte Pistolen an. Infolge der österreichischen Waffengesetzgebung waren zeitweise Waffenerwerbscheine zum Kauf von Pistolen unter 18 cm Länge erforderlich. Um dies zu umgehen, finden sich Pistolen mit überlangem Lauf sowohl in der Erst- wie auch in der Zweitserie.

Bis 1918 wurden rund 60.000 Pistolen gefertigt, nach dem Krieg bis 1943 nochmals rund 76.000 Pistolen, sodass sich eine Gesamtproduktion von rund 135.800 Exemplaren ergibt.


Fazit:

Die Steyr 1909 hebt sich mit ihrer Kipplaufkonstruktion angenehm von den alles beherrschenden Browning-Konstruktionen ab. Gegenüber den moderneren Taschenpistolen der Zwischenkriegsjahre waren die Steyr Pistole aber bereits in den 1920ern kaum noch konkurrenzfähig, sodass sie schlussendlich nur noch ein Schattendasein fristete. Für jeden Sammler österreichischer Pistolen ist diese kleine Taschenpistole dennoch ein Muss.

Zeichnung zum Warnant Patent 9379, vom 4. Mai 1905

Artikel zur Markteinführung der Steyr Pistole, Der Waffenschmied vom 10. April 1909

Unterschiedliche Blattfedern für den Kipphebel. Erstvariante (links) und Zweitvariante (rechts).

Vorserienpistole: schlanker Kipphebel, geschwungene Kante,  fehlende Feder, Ausnehmung für den Sicherungshebel und "FIRE" Bezeichnung.

Zweitserienpistole: breiter Kipphebel, gerade Kante, Lauffeder, weite Ausnehmung für den Sicherungshebel, "S" Markierung der Sicherung, höhere Griffrillen und tieferer Griffsporn.

Werbeanzeige zur Steyr 1909, Der Waffenschmied 25. Oktober 1909.

Erstserienpistole: leicht veränderter, federgelagerter Kipphebel, geschwungene Kante,  Feder, Ausnehmung für den Sicherungshebel und "S" Bezeichnung.

Vergleich Verschluss Erst- und Drittserie (links) mit Auszieher. Entsprechend findet sich auf der Stirnfläche des Laufgehäuses eine Ausnehmung für den Auszieher.

Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft Steyr, Modell 1909, im Kaliber 6,35 mm Browning


Vorbemerkung: Sammlern österreichischer Taschenpistolen empfehle ich die hervorragenden Bücher von Josef Mötz und Joschi Schuy "Vom Ursprung der Selbstladepistole" (Band 1) und "Weiterentwicklung der Selbstladepistole" (Band 2). Dieser Artikel basiert zum Teil auf Informationen aus diesen beiden Bänden, im Wesentlichen jedoch auf eigenen Recherchen zum belgischen Waffenkonstrukteur Nicolas Pieper und zu Steyr Pistolen.


Die Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft Steyr entstand aus dem 1864 gegründeten Unternehmen Josef und Franz Werndl & Comp., Waffenfabrik und Sägemühle, das 1869 in die ÖWG Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Bekannt wurde die ÖWG vor allem mit der Gewehrfertigung (Werndl, Kropatschek, Mannlicher, Mannlicher-Schönauer, Schwarzlose MG) und der Produktion zahlreicher Armeepistolen. Mit zeitweise über 15.000 Angestellten gehörte Steyr zu den größten Waffenherstellern Europas. Die von Steyr gegen Ende des 19. Jahrhunderts produzierten (Taschen-)Pistolen genügten jedoch aufgrund ihres komplizierten Mechanismus und ihrer Größe nicht mehr den Anforderungen des Zivilmarktes, der nach 1900 im Wesentlichen durch Pistolen mit Browning-System beherrscht wurde. Steyr musste handeln. Traditionell hielt Steyr enge Verbindung nach Belgien, wo sich Nicolas Pieper als ehemaliger Geschäftsführer der Société Anonyme des Établissements Pieper gerade mit der Fabrique d'Armes Automatiques Nicolas Pieper in Houtain Saint-Siméon bei Lüttich selbstständig gemacht hatte. Warum sollte Steyr also nicht auf eine bereits erfolgreiche Konstruktion zurückgreifen?

Und so berichtet die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift Der Waffenschmied im Dezember 1908, dass Pieper die Rechte an einer Pistole an Steyr verkauft und Steyr noch im selben Jahr die Produktion einer ebensolchen Pistole aufgenommen habe. Im April 1909 verkündet Der Waffenschmied dann die Markteinführung der Steyr Pistole und noch im August erscheinen erste Werbeanzeigen. Fast zeitgleich erscheint auch eine Pistole Modell 1909 im Kaliber 7,65 mm Browning, die aber nicht Gegenstand dieses Artikels ist. In zeitgenössischen, deutschen Katalogen wird die Modell 1909 im Kaliber 6,35 mm Browning für 36 Mark angeboten (Stukenbrok, 1913).

Technische Daten

Modell

Länge

Breite

Höhe

Lauflänge

Gewicht

Patronen

Seriennummern

Vor- und Erstserie

115 mm

20 mm

79 mm

 54 mm

330 g

6

1 - 5300

5001A - 46300A

Zweit- und Drittserie

115 mm

20 mm

81 mm

54 mm

350 g

6

43600A - 135800A

Steyr 1909 Vorserie, links
Frühe Pistole aus der Vorserie, leider nachbrüniert.
Steyr 1909 Vorserie, rechts
In der Aufzählung auf dem Laufgehäuse fehlt Patent 16715.
Steyr 1909 Erstserie, links
Pistole der Erstserie mit langem Lauf. Man beachte den ggü. der Vorserie leicht veränderten Kipphebel.
Steyr 1909 Erstserie, rechts
Auf dem Laufgehäuse rechts sind jetzt zwei Patente aufgeführt.
Steyr 1909 Zweitserie, links
Modell 1909 der Zweitserie. Bereits mit den späten Griffschalen.
Steyr 1909 Zweitserie, rechts
Jetzt deutlich sichtbar der gerade Verlauf der Griffstückkante über dem Abzugsbügel.
Steyr 1909 Zweitserie, links
Modell 1909 der Zweitserie mit Ergänzung der Beschriftung um MADE IN AUSTRIA.
Steyr 1909 Zweitserie, links
Eindeutig eine Pistole der Zweitserie.
Steyr 1909 Hybrid Zweit- und Drittserie, links
Normales Erscheinungsbild einer Pistole der Zweitserie. Schön erkennbar der tiefe Griffsporn. Seriennummer im Bereich 60xxx.
Steyr 1909 Hybrid Zweit- und Drittserie, rechts
Überraschend: deutlich erkennbar der Auszieher im Verschluss. Möglicherweise später einmal ersetzt.
Steyr 1909 SN 130017 right side
Pistole aus der Drittserie von 1934 mit einer Seriennummer knapp über 130000. Die Pistole hat einen Auszieher und das Präfix "Ehem." vor dem Patenthinweis.
Steyr 1909 Hybrid Zweit- und Drittserie, rechts
Eigentumsstempel auf dem Griffrücken. Wer kann ihn auflösen?
Pieper 1908 P, Basculant
Pieper Pistole Modell 1908 P mit Kipplauf. Dies ist vermutlich der gedankliche Vorläufer der Steyr Modell 1909.
Pieper Modell 1909
Pieper Modell 1909. Die äußere Ähnlichkeit zur Steyr Modell 1909 ist augenscheinlich. Es wird vermutet, dass Pieper seine Pistolen möglicherweise bei Steyr fertigen ließ.