Nicolas Pieper, Modell 1908 im Kaliber 6,35 mm Browning
Vorbemerkung:
Im Januar 2021 veröffentlichte ich einen umfangreichen Artikel zu den Pistolen des belgischen Konstrukteurs Nicolas Pieper in der Zeitschrift Waffenfreund des Verband für Waffentechnik und Geschichte e.V. Für detallierte Informationen zum Gesamtwerk von Pieper verweise ich auf diesen Artikel.
Geschichte der Fabrique d'Armes Automatiques Nicolas Pieper
Nicolas Pieper war der zweite Sohn von Henri Pieper und seiner Frau Catherine Elisabeth Leroy und wurde in Lüttich am 31. Oktober 1870 geboren. Damit war Nicolas Karriere beinahe vorgezeichnet, denn Vater Henri war Ende des 19. Jahrhunderts der erfolgreichste Waffenhersteller Lüttichs. Zur Einordnung: zu dieser Zeit kam fast die Hälfe der weltweit produzierten Feuerwaffen aus der belgischen Metropole. Henri Pieper besaß die größte Waffenfabrik des Landes und war zudem noch Mitbegründer und größter Anteilseigner von Fabrique Nationale d'Armes de Guerre.
Kurz vor seinem Tod ordnete Henri Pieper 1897 seine Verhältnisse neu, gründete die Société Anonyme des Établissements Pieper und übertrug Nicolas und den Brüdern Henri junior und Edouard Herman (auch bekannt als Armand) das Unternehmen. Nicolas leitete Établissements Pieper, Armand die Laufherstellung im Zweigwerk in Nessonvaux und Henri Junior ein neu gegründetes Elektro-Unternehmen. Die parallel einhergehende Diversifizierung auf Fahrräder, Autos mit Gas- und Elektroantrieb und Elektrizität führte jedoch 1905 in finanzielle Schwierigkeiten. Der Aufsichtsrat schasste Nicolas und Armand und es entstand ein völlig neues Unternehmen in Herstal – die Ancien Etablissements Pieper – in dem die bisherigen Waffenwerke zusammengeführt wurden. Anciens Etablissements Pieper produzierte in der Folge die Bayard Taschenpistole, die Bergmann-Bayard Modell 1908, diverse Gewehre und Revolver sowie Luftgewehre bis in die 1950er Jahre. Nicolas Pieper hingegen gründete eine eigene Fabrik unter dem Namen Fabrique d'Armes Automatiques Nicolas Pieper in Houtain Saint-Siméon bei Lüttich. Anciens Etablissements Pieper und Fabrique d'Armes Automatiques Nicolas Pieper waren also zwei konkurrierende Unternehmen - in Fakt, der leider auch in der Fachliteratur oft nicht beachtet wird.
Anhand von Werbeanzeigen und den dort gelisteten Adressen, lässt sich zeigen, dass Nicolas seinen Firmensitz mehrfach verlegte. Bekannte Adressen in chronologischer Reihenfolge waren: 292 rue Vivegnis (Lüttich), 42 rue Bonne Nouvelle (Lüttich), 3-5 Place Bonne Nouvelle (Lüttich) und 36 rue de la Bastille (Paris). Unklar ist deshalb, ob Nicolas wirklich umfangreiche eigene Fertigungskapazitäten unterhielt, oder ob er seine Beziehungen als ehemaliger Geschäftsführer der Société Anonyme des Établissements Pieper nutze, beispielsweise zur Waffenfabrik Steyr, und seine Waffen andernorts produzieren ließ.
Letzte Spuren von Piepers geschäftlicher Aktivität stammen aus Frankreich, wo er 1923 und 1930 Patente mit französischer Wohnadresse einreichte, bevor er schlussendlich 1933 in Lüttich im Alter von 62 Jahren starb.
Technik und Patente
Nicolas Piepers Pistolen basierten im Wesentlichen auf einer Grundkonstruktion von Jean Warnant von 1904 und einigen Folgepatenten, an denen Pieper am 30. Oktober 1905 die Rechte erwarb. Warnants Patentansprüche beziehen sich auf eine Kipplaufkonstruktion (sog. Basculant) bei der entweder der Lauf- oder der Verschlussblock um eine Achse gekippt werden kann. Dies ermöglicht einen leichteren Zugang zum Lauf, entweder zur Reinigung oder aber auch, um einzelne Patronen unmittelbar ins Patronenlager zu laden oder zu entladen.
Mit dem deutschen Patent DRP 195685 verbesserte Pieper den durch Warnant entwickelten Magazinhalter. Piepers neuer Halter ist als Winkelhebel ausgebildet und drehbar gelagert, sodass er beim Eindrücken gegen die Kraft der Haltefeder den Ansatz des Magazins aus dem Griff herausdrückt und man dieses so bequem erfassen kann. Diesen Halter findet man bei allen Pieper Pistolen.
Pieper entwarf jedoch zunächst jedoch eine Pistole ohne Kippmechanismus, bei der der Lauf- und Verschlussblock mittels Lösen einer Schraube bzw. später mittels Umlegen eines Hebels einfach vom Griffstück zu trennen ist (sog. Demontant). Das Modell 1908 ist Piepers erste Pistole mit einem Zerlegehebel anstatt einer Schraube. Der Hebel hält Griffstück, Lauf- und Verschlussgehäuse zusammen. Eine Drehung des Zerlegehebels nach unten löst die Verbindung zum Griffstück. Laufblock und Verschlussgehäuse sind mit Hakennasen im Griffstück geklemmt und können nach Lösen des Hebel nach vorne geschoben werden, worauf die Haken aus ihren Widerlagern geschoben werden. Verschlussstück und Laufblock bilden dabei eine Einheit und sind über die Schließfederstange verbunden. Die Schließfederstande liegt in einem eigenen Gehäuse oberhalb des Laufs und ist vorne mit einer Schlitzschraube mit Hülsenmutter gesichert. Die Stange ist in der Vertikalachse beweglich mit dem Verschlusstück verstiftet. Das Verschlusstück besteht aus dem eigentlichen Verschluss und einem Verschlussblech, die im Verschlussgehäuse geführt werden.
Zeitgleich bot Pieper das Modell 1908 als "Basulant" mit einem Kipplauf an, was Pieper zum ursprünglichen Warnant-Design zurückführte. Der Laufblock kippt dabei um eine vorne im Griffstück sitzende Welle. Die Schließfederstange trennt sich beim Abkippen vom Verschlussstück und ist dazu an ihrem Ende T-förmig ausgebildet, womit sie in einem Aufnahme des Verschlussblechs greift. Das Verschlussgehäuse ist mit einer einzelnen Schraube hinten im Bereich der Sicherung mit dem Griffstück verbunden, verdeckt in der FEU-Position durch den Sicherungshebel.
Sowhl bei der Demontant wie auch bei der Basulant Pistole ist das Schließfedergehäuse auf der linken Seite wie folgt gemarkt:
PISTOLET AUTOMATIQUE N. PIEPER BTE. S.G.D.G.
In Werbeanzeigen bietet Pieper das Modell 1908 in drei Größen, A, B, und C an. Bekannt ist allerdings nur das Modell C im Kaliber 6,35 mm Browning. Einige bekannte Pistolen weisen O und P Präfixe auf, wobei deren Bedeutung unklar ist.
Werbeanzeigen zeigen, dass das Modell 1908 in brüniertem, bräuniertem und Nickel-Finish erhältlich war. Auch waren gravierte und gold-eingelegte Varianten zu haben. Als mögliche Materialien für die Griffschalen wurden Hartgummi, Walnuss, Zelluloid, Elfenbein oder Perlmutt angeboten.
Bereits im Folgejahr ersetzte Pieper das Modell 1908 durch das Modell 1909. Die Produktionszahlen sind deswegen vergleichsweise gering.
Portrait Nicolas Pieper
Warnant Patent Nr. 9378 vom 4. Mai 1905
Pieper Patent Nr. 205743, vom 31.01.1908
Werbeanzeige zum Modell 1908, links das Basculant-Modell mit Kipplauf, rechts das Demontant-Modell, Der Waffenschmied vom 10.04.1908
Fazit:
Pieper war ein gewiefter Geschäftsmann, der in den Jahren seines Schaffens eine große Zahl sehr interessanter, sammelwürdiger Pistolen präsentierte. Das hier gezeigte Modell 1908 ist die erste Pistole mit einem Lösehebel und abkippendem Lauf, die vermutlich der geistige Urvater der bekannten Steyr Pistole Modell 1909 und vieler anderer Taschenpistolen mit Kipplauf war.
Abmessungen:
Länge | Lauflänge | Höhe | Breite | Gewicht | Magazinkapazität | |
Modell 1908, Basculant | 127,5 mm | 58,5 mm | 86 mm | 25 mm | 355 g | 6 |
Modell 1908, Demontant | 127,5 mm | 58,5 mm | 86 mm | 25 mm | 365 g | 6 |
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